Das historische Dazwischen: Die 7. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung als Differenzierung und Vermittlung einer „Geschichte von unten“ und einer „Geschichte von oben“

Das historische Dazwischen: Die 7. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung als Differenzierung und Vermittlung einer „Geschichte von unten“ und einer „Geschichte von oben“

Organisatoren
Carmen Flury, Fachgruppe Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Pädagogische Hochschule Zürich; Nehemia Quiring-Davaz / Daniel Deplazes, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
21.04.2022 - 22.04.2022
Von
Anna-Sophie Kruscha, Institut für Erziehungswissenschaft, Bergische Universität Wuppertal

Die Frage der 7. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung, inwiefern sich das Forschungsvorhaben zwischen einer „Geschichte von unten“ und einer „Geschichte von oben“ verorten ließe, beförderte bereits im Vorfeld eine Vielzahl an Folgefragen: Welche Möglichkeiten ergeben sich durch das Denken in Zwischenräumen und Vermittlungen für das Erkenntnisinteresse? Werden dadurch neue Perspektiven eröffnet? Welche Erkenntnisse könnten durch die Aufgabe der Differenzierung verloren gehen, und welche Konsequenzen ergeben sich für das Material? Diesen Fragen bot die Zürcher Werkstatt einen Ort der Auseinandersetzung. Die Werkstatt, so Daniel Deplazes einleitend, sei ein Ort, in dem die Promovierenden unter sich theoretische, methodologische und vor allem methodische Fragen und Problematiken in ihrem jeweils unabgeschlossenen Charakter jenseits von fachspezifischen Differenzen diskutieren können. Der Frage, welche historiographischen Konsequenzen, Potentiale und Grenzen aus dem gemeinsamen Gegenstand resultieren, erhofften die Organisatoren in der Diskussion der Beiträge weiter nachgehen zu können. Ganz unter sich blieben die Promovierenden dann aber doch nicht; sie wurden von Ulrike Mietzner durch kritische Rückfragen und konstruktive Kommentare, ganz in der Tradition der Zürcher Werkstatt, begleitet.

Drei thematische Schwerpunkte kennzeichneten die Zürcher Werkstatt. Zunächst wurde das widersprüchliche Verhältnis zwischen pädagogischen Institutionen, Erziehung, Bildung und Staat historisch analysiert. VIVIANE BLATTER (Basel) entwickelte eine Theorie der „Behinderung“ vermittelt über eine historisch-partizipative Untersuchung der Sonderschulung in der Deutschschweiz. Die Legitimations- und Begründungsformen der separaten Beschulung von 1950 bis 2010 sowie die Problematik der employability wurden im Plenum stark diskutiert.

EMMANUEL NEUHAUS (Basel) problematisierte die Beobachtungsprozesse und Diagnostiken von zwei Zürcher kinder- und jugendpsychiatrischen Beobachtungsstationen. Aufgrund einer gewissen „Diagnosewut zur Erziehungs- und Bildungsunfähigkeit“ im untersuchten Zeitraum wurde das Verhältnis von Pädagogik und Staat Sonderschulung vertiefend diskutiert. Auch kam die Frage nach der Differenz pädagogischer, medizinischer und psychologischer Problematiken und somit nach dem konflikthaften Verhältnis dieser Disziplinen auf.

STEPHAN KALDUNE (Erfurt) fokussierte in seinem Vortrag zum Nationalsozialismus im Heimatkundeunterricht der DDR einen weiteren Gegenstand dieses Forschungsfeldes. Aufgrund der Ambivalenz zwischen Antifaschismus, Patriotismus und Nationalismus in den pädagogisch-programmatischen und didaktischen Schriften der DDR sei „eine einzigartig-kontroverse Perspektive“ hinsichtlich des Verhältnisses des Politischen und des Pädagogischen zu erschließen. Die Differenz zwischen bildungspolitischer Vorgabe und pädagogischer Umsetzung wurde kritisch diskutiert.

Sodann wurde durch die historische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Bildungspolitik und Bildungssystem ein weiteres Themenfeld der Werkstatt bearbeitet. NEHEMIA QUIRING-DAVAZ (Zürich) befragte die Implikationen und Konsequenzen bildungspolitischer Governance auf die Zulassungspraktiken an Schweizer Universitäten. Ausgehend von der Einführung des Numerus Clausus in der medizinischen Fakultät in den 1990er-Jahren wurden die sozialen Reproduktionsmechanismen und ihre Wirkungen auf das Bildungssystem als Ganzes im Zusammenhang mit Elitenbildung und Chancengleichheit kontrovers diskutiert.

WIBKE OPPERMANN (Zürich) analysierte den vielschichtigen Zusammenhang zwischen Bildungspolitik, gesellschaftlichen Entwicklungen und wirtschaftlichen Interessen am Beispiel Deutschschweizer Lehrmittelverlage. Kantonale Vorgaben, der marktwirtschaftliche Aspekt der Konkurrenz, die Geschichte der Verlage und die gesellschaftlichen sowie bildungspolitischen Entwicklungen bilden historisch wie gegenwärtig ein vielschichtiges Gefüge bei der Produktion von Lehrmitteln. Dessen Erforschung ermögliche es, die Lehrmittelverlage sowohl als politische als auch als pädagogische Akteure des 20. und 21. Jahrhunderts zu verstehen.

FLORIAN GIMPL (Wien) ging dem Verhältnis von Nationalstaat, Bildungspolitik und Nationalismus vertiefend nach. Er konstatierte für die Erste Republik (Deutsch-)Österreich, dass sich ein österreichisches Nationalbewusstsein im Übergang von habsburgischer Monarchie zu österreichischer Republik nicht durchsetzen konnte, trotz bildungspolitisch-offensiver Strategien der Kanzlerdiktatur seit den 1930er-Jahren.

Alle Beiträge, und hier ist auch der letzte thematische Schwerpunkt der Zürcher Werkstatt zu verorten, setzten sich mit erkenntnistheoretischen, methodologischen und methodischen Fragen auseinander. Insbesondere die beiden demnächst besprochenen Vorträge waren durch gemeinsame Suchbewegungen gekennzeichnet, die für eine Werkstatt charakteristisch sind.

JOSCHA THIELE (Frankfurt am Main) setzte sich mit dem Phänomen der Kinderrepubliken des 20. Jahrhunderts auseinander. Die komplexe Konstellation des Phänomens stelle das Vorhaben vor besondere Herausforderungen: Verschiedene Typen von Einrichtungen trafen auf diverse Gestaltungsformen, politische Voraussetzungen und pädagogische Begründungen in einem internationalen Kontext. Die Auswirkungen auf die Fragestellung und die Materialauswahl wurden methodologisch zugespitzt: Handelt es sich um eine Historiographie (politischer) Pädagogik oder eine Historiographie der Kindheit? Auch begrifflich wurde Thieles Studienentwurf vermittelt über „Sozialisation“, „Erziehung“, „Verwiesenheit“ und „Generation“ diskutiert.

CLAUDIA ZIMMERLI-RÜETSCHI (Basel) widmete sich der bisher nicht systematisch erforschten Geschichte der schweizerischen Erwachsenenbildung. Basierend auf einer Sichtung des Archivmaterials der Migros-klubschule entwickelte sie einen suchenden und fragenden Versuch einer dekonstruktiv-kritischen Erzählung zur Geschichte der Erwachsenenbildung. Debattiert wurde u.a. über die Dimensionen und Konsequenzen des umfassenden Gegenstandes und die daraus resultierenden Fragestellungen für das Dissertationsprojekt.

Weitere Problematiken, mit denen sich die Werkstatt in diesem Themenkomplex auseinandersetzte, waren die Schwierigkeit der Narration des Fortschritts in der Historiographie, die Historisierung der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und die methodologische Frage, inwiefern eine nicht vorhandene Thematisierung, das Ausbleiben einer Debatte, das Nicht-Sprechen über etwas unter der Hegemonie evidenzbasierter Forschung zum Gegenstand gemacht werden kann.

Der kritische Tagungsrückblick von ULRIKE MIETZNER (Dortmund) verdichtete die unterschiedlichen Diskussionen der Werkstatt. Diese hätten gezeigt, dass es den Austausch und den Streit über die Sache braucht, um den theoretischen, methodologischen und methodischen Ansprüchen des historischen Forschens gerecht zu werden. Mietzner habe jedoch eine vergleichende, internationale Perspektive sowie quantitative Projekte vermisst. Aus den Vorträgen und Diskussionen sei weiterhin deutlich hervorgegangen, dass eine „Geschichte von oben“ oder „von unten“ der Komplexität der Gegenstände und der Verwobenheit der verschiedenen Ebenen kaum gerecht werde. Die Teilnehmer:innen der Werkstatt haben jedoch sowohl Binaritäten als auch Grenzen der eigenen Traditionen kritisch reflektiert. Mietzner motivierte sie durch ihren Rückblick und ihre konstruktiven Kritiken, selbstbewusst an die unerforschten Bereiche heranzutreten und Sichtbarkeiten für die Thematiken zu schaffen.

Das gemeinsame Anliegen der Teilnehmer:innen der Werkstatt – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Auseinandersetzung miteinander zu begreifen – täuschte also nicht über die thematische Breite der Forschungsprojekte hinweg; im Gegenteil: In den acht Vorträgen wurden die Variationen bildungshistorischer Erkenntnisinteressen, Methodologien, Methoden und Materialien ersichtlich. Zwar konzentrierten sich alle Vorträge auf das 20. Jahrhundert und hier insbesondere auf die Zeit nach 1945, jedoch machten sie die unterschiedlichen Facetten der deutschsprachigen Nachkriegszeit sichtbar. Neben verschiedenen Institutionen wurden Problematiken der Bildungspolitik und der Erziehungswissenschaft sowie Zusammenhänge der Geschichte und der Gegenwart befragt.

Dank der kritischen und regen Beteiligung aller Teilnehmer:innen, ob als Vortragende oder Diskutant:innen, und der hervorragenden sowie engagierten Organisation der Initiator:innen war die Werkstatt ein voller Erfolg: Die Promovierenden konnten zusammenkommen, um an ihren Dissertationsprojekten in anregender Atmosphäre zu arbeiten, die theoretischen und methodologischen Traditionen zu hinterfragen, das methodische Vorgehen zu reflektieren und das Material zu diskutieren. Die Werkstatt wurde somit zum Ort des eigenständigen Denkens und des kooperativen Arbeitens an einer Sache; in ihr wurde um das Material und seine Bearbeitung gerungen; es wurde ausprobiert, wieder verworfen und weitergedacht. Eine Asymmetrie zwischen Lehrlingen und Meistern gab es nicht; sie hob sich im Streit um das sachliche Argument auf. Denn im Streit, in der Debatte sind wir Lehrlinge und Meister zugleich; die wissenschaftliche Erkenntnis ist unser Lehrstück, das niemals wirklich fertig wird. Die Besonderheit der 7. Züricher Werkstatt Historische Bildungsforschung lag genau in ihrem Werkstattcharakter, der sowohl als Metapher als auch als Forschung in actu zu verstehen ist.

Konferenzübersicht:

Viviane Blatter (Universität Basel): Schulen für Kinder mit einer Körperbehinderung als vielschichtiges Phänomen zwischen Pädagogik, Staat und Individuum

Nehemia Quiring-Davaz (Universität Zürich): Die Steuerung der Zulassung an universitären Hochschulen in der Schweiz durch nationale, hochschulpolitische Akteure am Beispiel der Einführung des Numerus clausus im Studienfach Medizin in den 1990er-Jahren

Florian Gimpl (Universität Wien): Nation building in der Schule der Ersten Republik (Deutsch-)Österreich und der Kanzlerdiktatur Dollfuß/Schuschnigg (1918–1938)

Joscha Thiele (Goethe-Universität Frankfurt am Main): Kritik der Kinderrepublik – Verstrickungen im historischen und systematischen Arbeiten

Emmanuel Neuhaus (Universität Basel): Der ärztliche Blick auf „Kinder, deren Verhalten nicht ohne weiteres verstanden werden kann“. Die Zürcher kinder- und jugendpsychiatrischen Beobachtungsstationen Stephansburg und Brüschhalde (1921–1975)

Stephan Kaldune (Universität Erfurt): Das fachliche Verständnis und die didaktischen Intentionen hinter der Thematisierung der Zeit des Nationalsozialismus im Heimatkundeunterricht der DDR

Claudia Zimmerli-Rüetschi (Universität Basel): Vielseitige Geschichten – einseitige Erzählweise. Die Geschichte der Erwachsenenbildung in der Schweiz. Eine bildungshistorische Diskursanalyse

Wibke Oppermann (Universität Zürich): Deutschschweizer Lehrmittelverlage: Vermittler zwischen Praxis und Politik (1970–2000)

Ulrike Mietzner (Universität Dortmund): Kritischer Tagungsrückblick

Redaktion
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